Der literaTurm Blog

03.06.2016 - 12:25 Uhr

Entgrenzungen

Vor der Ausstellungshalle in der Schulstraße 1A

Sehr philosophisch ging es in der allerersten Veranstaltung nach dem grandiosen Opening von literaTurm zu. In der Ausstellungshalle in der Schulstraße 1A unterhielten sich Monika Rinck, Ulrich Peltzer und Marcus Steinweg zwischen bedruckten Geschirrtüchern und durchsichtigen Stores – Objekte der bereits am 31. Mai eröffneten literaTurm-Ausstellung.

Ulrich Peltzer, der 2015 mit seinem Roman „Das bessere Leben“ auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, stellte Fragen in den Raum: Wo liegt die Grenze des Romans, wo liegen die Grenzen der Figuren? Wann verlieren die Verästelungen der Geschichte ihre Zusammenhänge? Welche Rolle spielen Kohärenz und Konsistenz? Werden Figuren beschnitten, um am roten Faden zu bleiben?

Ulrich Peltzer
Ulrich Peltzer

„Führt Entgrenzung zur Vereinfachung oder Verkomplizierung? Stellen Sie sich ein Auto in einem Parkhaus vor, dass sie mitsamt dem Gebäude in ein größeres Parkhaus und wieder in ein größeres und so weiter versetzen. So etwa muss man sich geistiges Volumen denken“, erwiderte Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin Monika Rinck. Das Hirn, das Denken als eine Art unendliche Matrjoschka, als russische Holzpuppe mit zahllosen weiteren Püppchen.

„Die Wirklichkeit lässt sich eigentlich in simplen Bildern nicht mehr erzählen. Aber wie lässt sich das darstellen? Denn verlangt wird terroristische Evidenz“, entgegnete Peltzer.

„Ich bin eigentlich kein Schriftsteller und hier in die Mitte geraten. Aber bestimmte Fragen wie zum Beispiel die Realität beschäftigen mich auch“, schaltete sich der Philosoph und Installationskünstler Marcus Steinweg ein. „Irgendwie ist uns die Restitution einer verloren gegangenen Einheit stets im Kopf. Realität ist ein Versprechen, das nicht eingehalten wird.“

Monika Rinck, Marcus Steinweg, Ulrich Peltzer
Monika Rinck, Marcus Steinweg, Ulrich Peltzer

„Können wir die brüchigen Ränder einer Geschichte in Kauf nehmen?“, wollte Peltzer wissen. „Lesen wir Hegel! Und zwar im Sinne einer absturzgefährdeten Zirkusnummer“, meinte Steinweg. „Gerade der Mangel an Seriosität macht Hegel glaubwürdig.“ Er brachte den Philosophen Jaques Derrida ins Gespräch, nannte seine Thesen bewundernswert, aber ängstlich: „Er nimmt die Hand nicht vom Geländer“, verdeutlichte Steinweg.

„Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache“, dieses Versfragment von Archilochos fiel Rinck ein. „Das ist doch eine lustige Vorstellung.“

„Man muss historische Begriffe wie Freiheit und Grenze im Kontext sehen“, kam Steinweg auf das Thema zurück und ergänzte: „Was ich an der Philosophie liebe ist, dass sie immer unter Verdacht steht.“ Die öffentlichen Diskussionen über Michel Houellebecqs Buch „Unterwerfung“ nannte er „erbärmlich“.

Monika Rinck
Monika Rinck

Während Rinck empfahl, Elke Erbs „Winkelzüge oder Nicht vermutete, aufschlussreiche Verhältnisse“ zu lesen, wandte sich Steinweg am Schluss vehement gegen das immer noch herrschende Denkverbot an deutschen Hochschulen, redete sich in Rage und forderte, neue Denkweisen auszuprobieren.

Die Veranstaltung war sicher für Leute, denen Boss, Marc Cain, S. Oliver, Esprit und Tommy Hilfiger geläufiger sind als Adorno, Hegel, Kant, Derrida und Houellebecq nicht geeignet. Und jeder Debattant hatte zum Thema „Entgrenzungen“ ganz eigene Vorstellungen. Aber anregend war die Unterhaltung allemal.